Der Landbote, 30. September 2020:

«Ein ganz normaler Umgang mit psychischer Erkrankung»

Vor 20 Jahren fusionierten zwei sozialpsychiatrische Vereine zum VESO, Verein für Sozialpsychiatrie Region Winterthur. Ein Gespräch mit dem Präsidenten Hans Peter Haeberli und mit dem Geschäftsleiter Diego Farrér über die bewegte Geschichte der Institution, die aktuellen Herausforderungen und die künftige Entwicklung.

 

Werfen wir einen Blick zurück. Hans Peter Haeberli, Sie sind seit 2002 im Vorstand und haben 2005 das Präsidium übernommen. Wie war es genau mit den Anfängen des VESO?

Hans Peter Haeberli: Der heutige VESO ist entstanden aus der Fusion des 1973 gegründeten Vereins für therapeutische Wohngemeinschaften und des 1989 gegründeten Vereins für Sozialpsychiatrie Winterthur und Umgebung. Als diese beiden Vereine im Jahr 2000 fusionierten, brachten sie nicht nur ihre Geschichte und Kultur mit, sondern auch Angebote, die noch heute Bestand haben, so zum Beispiel die Wohngemeinschaft Im Lind in der Nähe des Kantonsspitals oder die Wohngemeinschaft Sunnehus gegenüber dem Alterszentrum Adlergarten. Der VESO ist eine Institution, die sich über viele Jahre stetig weiterentwickelt hat. 2023 werden wir unser 50-Jahr-Jubiläum feiern.

 

Was waren wichtige Meilensteine?

Hans Peter Haeberli: Die Fusion im Jahre 2000 war ein sehr wichtiger Meilenstein. Mit dem Einrichten einer Geschäftsstelle im gleichen Jahr war der solide Grundstein für die weitere Entwicklung und Professionalisierung gelegt. Die 1973 eröffnete WG Wartstrasse musste 2004 aus finanziellen Gründen geschlossen werden. Ebenfalls 2004 wurden zwei Werkstätten zusammengelegt und an der Pflanzschulstrasse beim Fotomuseum neu eingerichtet, wo sich auch heute noch ein grosser Teil unserer Angebote und unsere Geschäftsstelle befinden. Die Werkstatt, die über 120 Menschen mit psychischer Beeinträchtigung einen Arbeitsplatz bietet, ist eines der Flaggschiffe des VESO. 2006 folgte eine Abteilung für Reinigungs- und Hauswartungsarbeiten, die heute rund 30 Mitarbeitende beschäftigt. 2008 kam das betreute Wohnen für Mutter und Kind hinzu und 2011 unsere erste Tagesstätte mit einem sehr niederschwelligen Tagesstruktur-Angebot. Ein ganz wichtiger und nach innen und aussen erkennbarer Schritt erfolgte 2017, als sich alle Abteilungen des VESO unter dem Motto ‘Gemeinsam. Weiterkommen’ einen gemeinsamen und modernen Auftritt gaben.

 

Diego Farrér, Sie haben als Geschäftsleiter diesen starken Neuauftritt des VESO massgeblich initiiert und mitgeprägt. Das Projekt Gutschick ist ein weiterer wichtiger Meilenstein der letzten Jahre. Warum dieses neue Angebot?

Diego Farrér: Mit dem Projekt Gutschick haben wir im Herbst 2018 ein Wohn- und Tagesstrukturangebot für Personen ab 55 geschaffen. Hier können Personen mit psychischen Beeinträchtigungen über die Pensionierung hinaus bis ins hohe Alter bleiben. Mit Blick auf die zunehmende Alterung der Bevölkerung und auch unserer Klientinnen und Klienten war es wichtig, ein entsprechendes bedürfnisgerechtes Angebot zu schaffen. Wohnheime sind nämlich oft auf die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt ausgerichtet und bieten darum keine angemessene Wohnumgebung mehr. Zu jung fürs Altersheim und zu fit fürs Pflegeheim, brauchen diese Personen betreute oder begleitete Wohnformen ohne Integrationsdruck, aber mit sinnstiftenden Tagesstrukturen, die den Fokus auf den Erhalt der persönlichen Ressourcen und den steigenden Pflegebedarf legen.

 

Für Schlagzeilen sorgte im letzten Jahr die Partnerschaft mit der Möbelbaufirma USM.

Diego Farrér: Für uns ist USM Haller nicht nur ein zeitlos stilvolles und hochwertiges Verkaufsprodukt, sondern insbesondere deshalb interessant, weil rund um das modulare Möbelbausystem interessante Arbeitsplätze für Menschen mit Beeinträchtigung geschaffen werden konnten. Dass wir als offizieller USM Second Hand Partner mit dem international renommierten Schweizer Möbelhersteller zusammenarbeiten, macht unsere Mitarbeitenden besonders stolz. Es ist eine sichtbare Auszeichnung für die Qualität, die aufgebaut werden konnte.

 

Was sind weitere aktuelle Projekte und Herausforderungen?

Diego Farrér: Bei der beruflichen Integration besteht bereits ein grosses Angebot an Arbeitsplätzen im geschützten Rahmen. Da möchten wir uns noch stärker für die Integration und Inklusion im ersten Arbeitsmarkt engagieren und haben dafür eine eigene Abteilung geschaffen. Ein besonderes und im laufenden Jahr konzipiertes Angebot sind Integrationsarbeitsplätze.

 

Wie funktionieren solche Integrationsarbeitsplätze?

Diego Farrér: Wir suchen ganz gezielt Partnerbetriebe im ersten Arbeitsmarkt, die interessiert sind, mit uns zusammenzuarbeiten und Menschen mit psychischer Beeinträchtigung zu beschäftigen. Die oder der Mitarbeitende wird von uns begleitet, auch die Firma wird bei allfälligen Fragen unterstützt. Dies ist ein sehr attraktives Modell: Die Partnerbetriebe bezahlen nur die effektiv erbrachten Leistungen. Die / der Mitarbeitende bleibt beim VESO angestellt, welcher damit auch das Risiko von möglichen Krankheitsausfällen trägt. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten.

 

Wo sehen Sie weitere Entwicklungen in den nächsten Jahren?

Hans Peter Haeberli: Wir streben ein gesamtheitliches und möglichst durchgängiges Angebot für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen in der Region Winterthur an. Da ist uns die Zusammenarbeit mit allen relevanten Partnern in der Region Winterthur ganz wichtig, im stationären Bereich mit Kliniken, aber auch mit Ärztinnen, Ärzten, Psychologinnen und Psychologen und weiteren Beratungs- und Therapiestellen. Neben unserem bereits erwähnten stärkeren Engagement im Bereich der beruflichen Integration sehen wir im Bereich Wohnen einen zunehmenden Bedarf nach Angeboten für Personen, die sehr selbstständig sind und auf wenig Betreuung und Begleitung angewiesen sind. Entsprechende Angebote sind bei uns bereits in Planung. Wir sind finanziell gesund und planen unsere Entwicklungsschritte so, dass es dabei bleibt. Gegenwärtig läuft bei uns der Strategieprozess VESO25, in dem wir vom Vorstand zusammen mit dem Geschäftsleiter und den Abteilungsleitenden die Entwicklung des VESO für die nächsten Jahre inhaltlich definieren und auf der Zeitachse festlegen.

 

Und wenn Sie noch weiter in die Zukunft schauen?

Hans Peter Haeberli: Ziel ist letztendlich ein ganz normaler Umgang mit dem Thema psychische Erkrankung und die Inklusion von Betroffenen in unserer Gesellschaft.